Alle an die Arbeit – nur wie?

Überstunden, fristlose Kündigung, Kinderarbeit oder fehlende Schutzkleidung – wenn es um Arbeitsbedingungen geht, werden besonders häufig Geringqualifizierte ausgebeutet. Mit jedem billigen T-Shirt unterstützen wir diese Praxis. Die Forderung nach menschenwürdiger Arbeit kommt mit Andrea Nahles auf die Bühne – und mit der Zukunftscharta auf den Tisch.

"Jeder soziale Fortschritt fing mit einem ehrgeizigen Ziel an" - Andreas Nahles (Foto: Johannes Herbel)
„Jeder soziale Fortschritt fing mit einem ehrgeizigen Ziel an“ – Andreas Nahles (Foto: Johannes Herbel)

Das mit der Würde

Eine menschenwürdige Arbeit wird durch Selbstbestimmung möglich. Dazu gehören „die Möglichkeit für Bildung, für angemessene Arbeitsplätze mit entsprechenden sozialen Standards und auch angemessenen Löhnen“, schreibt Prof. Dr. Gerhard Prätorius, der Leiter der Unternehmerischen Verantwortung bei der Volkswagen AG im Katalog der Zukunftscharta.

Was sich nach konkreten Forderungen anhört, sind im Grunde alte Floskeln, die mindestens seit Bestehen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO – also seit knapp 100 Jahren – durch diverse Parteiprogramme schwirren. Arbeit darf keine Ware sein. Die ILO beurteilt ein faires Einkommen als einen Schritt auf dem Weg zu Freiheit, Gerechtigkeit, Sicherheit und menschlicher Würde.

Das dritte Kapitel der Zukunftscharta schmückt bunte Bilder mit Forderungen für mehr „soziale und ökologische Standards weltweit, Menschenrechte, Umweltgesetze“ und „internationale Arbeitsnormen“, weiter „Geschlechtergerechtigkeit, Kinderrechte“, aber auch „höhere Wertschätzung der Sorge- und Pflegearbeit“ insbesondere Frauen gegenüber. Auch Anregungen zur Umsetzung gibt es dazu. So etwa der Hinweis, Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen bräuchten „vermehrte Investitionen (…)“. Deutschland solle als Akteur eigene Erfahrungen einbringen, etwa mit „der sozialen und ökologischen Martwirtschaft, einem starken Mittelstand, Genossenschaften, beruflicher Bildung und einem regelbasierten offenen Handel“.

Be- oder entlohnt – was bedeutet Wertschätzung?

Wie muss menschenwürdige Arbeit bezahlt werden? Arbeit muss sich doch lohnen! – ganz und gar unbefangen geht mir das gelbes Licht der Liberalität auf. Kann man in einer globalisierten Arbeitswelt mit bestehenden Abhängigkeitsstrukturen allein durch „faire“ Bezahlung sich einer Gleichheit annähern, oder gefährdet schon allein die Fremdbestimmung bei Entlohnung durch ausländische Firmen mit eigenen Arbeitsauflagen die Selbstbestimmtheit?

Adidas gibt stolz auf seiner Homepage an, sich bereits seit 2002 mit jenem Thema auseinanderzusetzen. Genauer: mithilfe angepasster Lohnzahlungen ein Einkommen zu ermöglichen, das „mindestens den Lebensunterhalt decken sowie ein Mindestmaß an erspartem Vermögen ermöglichen sollen“. Es braucht mehr, um erst zu Ersparnis und in der Folge zu eigenen Investitionen, Innovationen, dem Aufbau einer eigenen Wirtschaft und so zur Unabhängigkeit zu kommen. Für die Unternehmen muss der wirtschaftliche Anreiz da sein, nachhaltig zu handeln. Normalerweise schaffen KonsumentInnen das Angebot durch Nachfrage. Adidas verteidigt seine Strategie: „Mit steigenden Löhnen geht aber auch der wirtschaftliche Druck einher, günstigere Bezugsquellen in Ländern mit niedrigerem Lohnniveau suchen zu müssen.“

Andrea Nahles blickt zuversichtlich auf das Jahr der Entwicklung 2015

Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) spricht in der Politikarena beim Zukunftsforum euphorisch und mit dem Hinweis auf ihre vierjährige Tochter sichtlich emotional über den deutschen Anteil zur Umsetzung von fairer Arbeit weltweit. „Jeder soziale Fortschritt fing mit einem ehrgeizigen Ziel an“ – so möchte Nahles zusammen mit Gerd Müller die Zukunftsentwürfe für die Zeit bis 2030 energisch angehen.

Es gibt in der Charta keine konkreten Zahlen zu weiteren Zielen. Nahles weist auf bisherige Erfolge hin: In den Schwellenländern habe man die Forderung nach einem Anteil von 20 Prozent für erwerbstätige Frauen erfüllt und der Mindestlohn stehe in den Startlöchern. Seit Oktober steht das von Entwicklungsminister Müller initiierte Textilbündnis für verbesserte soziale Standards, doch ausgerechnet die großen Marken – wie zum Beispiel Adidas – sitzen nicht mit im Boot. Gerade dieser „Beitrag der Wirtschaft“ sei aber eine wichtige Voraussetzung. Unternehmen müssten „die Verantwortung für jedes einzelne Glied der Lieferkette übernehmen“.
Nahles freut sich über den internen Konsens mit der Opposition zum Thema Nachhaltigkeitspolitik. Wir müssten von unserem Reichtum, unserem Wissen abgeben, folgert Müller später in einem Interview. Die Bundesregierung als Zukunftswerkstatt mit Geniestreichen?

Entwicklung in den eigenen Reihen

Beginnt menschenwürdige Arbeit nicht auch in Deutschland?, überlege ich. In der Zeit ohne verbindlichen Mindestlohn plagen sich ArbeitnehmerInnen unbezahlt in Praktika ab. Streiks wie kürzlich bei der Bahn bringen die Wut über Dumping-Löhne auf die Straße. Deutschland soll wettbewerbsfähig bleiben – ein Argument, dass auch in der ausländischen Textilproduktion angebracht wird. Mit der Einführung des Mindestlohns passiert ein kleines Stück deutsche Entwicklung.

Christian Osterhaus (Foto: Johannes Herbel)
Christian Osterhaus (Foto: Johannes Herbel)

Es braucht hier noch mehr. Etwa „Arbeitsrechte auch für Menschen ohne Papiere“, fordert Christian Osterhaus von Don Bosco Mondo in einer der Talkrunden auf dem Zukunftsforum. Arbeit sei nicht nur dafür da, dem Menschen seine Grundbedürfnisse zu befriedigen, sondern die soziale Teilhabe in Gestalt jener oft zitierten „Selbsterfüllung“ zu ermöglichen. Dazu ist die „Teilhabe an der Wertschöpfung“ ein zentraler Punkt. Heißt: über seine Tätigkeit hinaus sollen Beschäftigte teilhaben an dem, was sie durch ihre Hände zu einem Wert bringen. Was bedeutet die nachhaltige Produktion einer Firma, wenn sie selbst kein Betriebsrat hat? „Welch Paradoxon“, bemerkt Osterhaus. Die Entwicklung zu mehr Gerechtigkeit muss eine gemeinsame sein, keine nachholende nur auf Seiten der Entwicklungländer.

Offene Fragen

Ich erinnere mich an die bolivianischen Kinderarbeiter, die Ende letzten Jahres auf die Straße gingen, um für ihre Arbeit zu protestieren. Sie forderten gesetzliche Regelungen anstatt Kriminalisierung. Die Jungen und Mädchen unterstützen mit ihrem Lohn oft ihre Familie und bezahlen Schulgeld. Ich nutze die Gelegenheit und frage im Plenum nach: Können westliche Standards ohne weiteres auf andere Kulturen angewendet werden, ganz ohne die kulturellen Hintergründe und Bedürfnisse zu beachten? Nahles antwortet: Wenn ihre Arbeit verboten wird, müsste der Lohn ihrer Eltern steigen, alles andere wäre „verlogen“.

„Das Problem liegt beim Konsument, bei jedem von uns“, wirft ein junger Mann in die Diskussionsrunde ein und erntet schleichenden Applaus. Die Maßnahmen zu internationalen Arbeitsstandards seien „nur ein Versuch, das Grundproblem zu flicken“. Ein Mediziner überlegt, wie eine Unfallversicherung geschaffen werden kann, wenn die medizinische Ausstattung für eine Durchführung nicht ausreicht. Was macht eine bangladesische Gewerkschaftsvertreterin, wenn sie nicht frei reden kann?, bemerkt ein ausländischer Gast. Nach 30 Minuten Diskussion ist klar: am Thema Arbeit muss noch gearbeitet werden.

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