Heimat zwischen Kabul und Hamburg

Ein Moment, zwei Leben: Annika Schulze beschreibt in der Geschichte von Anna und Amar, wie ähnlich und doch komplett unterschiedlich der Alltag zweier Menschen sein kann.

7 Uhr, Hamburg, Deutschland. Pünktlich reißt der Wecker Anna aus dem Schlaf. Es vergehen ein paar Minuten, bis sie aufsteht. Dann zieht sie sich an, schminkt sich, isst Frühstück, packt noch schnell ihre Schulsachen und verabschiedet sich flüchtig von ihren Eltern.

8 Uhr, Kabul, Afghanistan. Auch Amar wird wie jeden Morgen von seinem Wecker aus dem Schlaf gerissen, auch für ihn ist es ein ganz normaler Morgen. Der einzige Unterschied zu Annas Morgen ist, dass er in ständiger Angst wegen des Krieges leben muss. Er überlegt schon lange, sich wie viele andere auf die Suche nach einer besseren Zukunft zu machen. Doch Kabul ist seine Heimat, er hat einen guten Job und seine Freunde und Verwandten leben hier. So leicht kann er sich nicht von all dem trennen. Seine jüngste Tochter kommt heruntergelaufen, er hebt sie hoch und küsst sie auf die Wange. Amar entscheidet sich in dieser Sekunde, heute nicht zur Arbeit zu gehen. Es ist ein ungutes Bauchgefühl, die Tatsache, dass es ihm nicht besonders gut geht und der Wunsch, mal wieder einen Tag mit seiner Frau zu verbringen.

Für Anna ist es ein schönes, vertrautes Gefühl, nach Hause zu kommen

Anna kann es kaum abwarten, dass die Schulklingel endlich läutet. Sie eilt nach Hause, macht sich etwas zu Essen warm, guckt sich ihre Hausaufgaben an und um 5 Uhr fährt sie zum Training. Es ist ein ereignisloser Tag. Als sie an diesem Abend nach Hause kommt, öffnet ihr Vater die Tür. Sie umarmen sich und es ist ein schönes, vertrautes Gefühl, wenn auch etwas ungewohnt, denn seit Anna etwas älter ist, streitet sie sich oft mit ihren Eltern. Sie ahnt nicht, wie glücklich sie sich schätzen kann, ihren Vater heute Abend in die Arme schließen zu können.

Amar fasst den Entschluss, seine Heimat zu verlassen

Nachmittags, während des Mittagessens, klingelt Amars Handy. Er steht auf und nimmt den Anruf in der Küche an. Am anderen Ende der Leitung rauscht es unverständlich. Es braucht eine kurze Zeit, bis Amar den Mann versteht. Es vergehen weitere Sekunden, bis er die Bedeutung seiner Worte tatsächlich versteht. Es trifft ihn wie einen Schlag ins Gesicht. Das Einzige, was er im nächsten Moment hört, ist das laute Klopfen seines Herzens und sein unregelmäßiger Atem. Langsam geht er zurück ins Esszimmer. Er blickt auf seine Familie, seine beiden Töchter. Er hört nicht, was sie sagen, es fühlt sich an, als wäre er unter Wasser. Er hätte heute sterben können, doch er und seine Familie haben eine weitere Chance bekommen. An seinem Arbeitsplatz wurde heute ein Anschlag verübt. Viele seiner Arbeitskollegen sind gestorben, andere schwer verletzt. Wäre er heute zur Arbeit gegangen, so wie jeden sonstigen Tag auch, wäre er mit Sicherheit gestorben. Seine Frau nimmt ihn in die Arme, hält ihn fest. Mit dem Blick auf seine Kinder, seine Frau im Arm, trifft er eine Entscheidung, die sein ganzes Leben verändern wird. Er fasst den Entschluss, sein Heimatland zu verlassen und sich auf den Weg in eine besser Zukunft zu machen, um seiner Familie Sicherheit garantieren können. Er weiß, dass es ein großes Risiko ist, das er eingeht. Doch er nimmt dieses Risiko auf sich.

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